Schuldrechtsreform in Belgien – Teil 1:
Allgemein /von Guido ImfeldAGB-Recht, die Änderung der Geschäftsgrundlage und der anticipatory breach
Belgien unternimmt eine vollständige Reform des Zivilrechts, über die wir sukzessive berichten werden. Unter anderem das Sachen- und Beweisrecht wurden mit dem 3. und 8. Buch bereits in 2021 erfolgreich reformiert, erfolgreich auch insoweit, als man im Gegensatz zur deutschen Gesetzgebung feststellen muss, dass der Gesetzgeber es fast durchgehend vollbracht hat, die Kürze und Prägnanz der Bestimmungen des aus 1804 stammenden Code civil zu bewahren. In Deutschland gilt leider eher, dass jede Gesetzesreform sich dadurch auszeichnet, dass sich ein Paragraf über eine halbe Seite oder mehr des Gesetzbuches hinzieht und für Laien kaum noch verständlich ist.
Die Reform des allgemeinen Schuldrechts im 5. Buch des Code civil ist seit dem 1. Januar 2023 in Kraft. Sie hat wichtige Änderungen eingeführt. Anwendbar sind die Bestimmungen auf alle Verträge, die seit dem 1. Januar 2023 geschlossen wurden. Für Altverträge gilt die ursprüngliche Fassung des „ancien Code Civil“.
Allgemeine Geschäftsbedingungen – Knock-out-Rule
Gemäß Artikel 5.23 des Zivilgesetzbuchs ist es für die Einbeziehung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen in einen Vertrag erforderlich, dass die andere Partei von ihnen Kenntnis genommen hat oder die Möglichkeit dazu hatte. Diese Regel scheint dem gesunden Menschenverstand zu entsprechen, ist jedoch nicht immer evident.
Vor allem ist an dieser Stelle zu beachten, dass das vorstehende Prinzip unter Berücksichtigung der im 8. Buch des Zivilgesetzbuches enthaltenen und teilweise richterrechtlich entwickelten Beweisregeln Ausnahmen erfährt. Denn es gilt im unternehmerischen Verkehr, dass der Unternehmer, der Adressat eines Schreibens ist, dessen Inhalt unverzüglich widersprechen muss, wenn hierzu Veranlassung besteht. Dieses Prinzip, das wir im deutschen Recht bei dem kaufmännischen Bestätigungsschreiben kennen, ist im belgischen Recht eine allgemeine Regel und geht daher in seinem Anwendungsbereich viel weiter als das kaufmännische Bestätigungsschreiben. Der Hauptanwendungsfall ist der Erhalt einer Rechnung, weil das belgische materielle Beweisrecht des Code civil davon ausgeht, dass die Rechnung mangels Protestes anerkannt wird, wenn der Unternehmer hiergegen nicht unverzüglich Protest erhebt, Artikel 8.11 § 4 Code civil. Dies ist bei Anwendbarkeit des unvereinheitlichten belgischen Zivilrechts von enormer Bedeutung.
Allerdings werden diese Beweisregeln, wenn auch in Verkennung der Norm des Art. 18 Abs. 1 Satz 2 CISG, wonach Schweigen oder Untätigkeit keine Annahme darstellen, von vielen belgischen Gerichten rechtsfehlerhaft auch bei Anwendbarkeit des UN-Kaufrechts auf den konkreten Vertrag angewendet, dies, obwohl das UN-Kaufrecht als völkerrechtliches Abkommen das nationale Recht, selbst EU-Recht in seinem Anwendungsbereich verdrängt. Häufig verweisen Rechnungen auf die AGB der jeweiligen Partei, die dann mangels Protestes gegen den Inhalt des Schreibens ex post in den ja notwendigerweise vor Erstellung der Rechnung abgeschlossenen Vertrag einbezogen werden. Dies widerspricht den Regeln zur Einbeziehung von AGB im internationalen Rechtsverkehr, jedenfalls im UN-Kaufrecht und ist rechtsdogmatisch nicht zu rechtfertigen, jedoch Realität in der belgischen Rechtsprechung. Daher ist die Aussage des Art. 5.23 des Zivilgesetzbuches nicht absolut zu sehen. Genauer müsste man formulieren, dass es für die Einbeziehung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen in einen Vertrag erforderlich ist, dass die andere Partei von ihnen Kenntnis genommen hat oder die Möglichkeit dazu hatte, es sei denn, eine Partei widerspricht einem Schreiben des Anwenders der AGB nicht, die auf die AGB verweisen.
Ausdrücklich hat das belgische Zivilrecht für den Fall eines Konflikts zwischen allgemeinen Geschäftsbedingungen für die „Knock-out“-Regel optiert. Dies entspricht auch der Rechtsprechung im deutschen Zivil- und Handelsrecht. Im Konflikt stehende Regeln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen annullieren sich wechselseitig und werden durch das auf den Vertrag anwendbare Gesetzesrecht ersetzt. Dies vermeidet das ansonsten gebotene Ergebnis, dass ein Vertrag aufgrund eines Dissenses nicht geschlossen wäre.
Im Gegensatz dazu gibt es die „Last-shot-rule“, die nach noch herrschender Auffassung im Anwendungsbereich des UN-Kaufrechts gilt.
Diese Regel besagt, dass bei Vertragsverhandlungen, in denen die Parteien auf ihre jeweiligen AGB verweisen, sich die AGB der Partei durchsetzen, die als letzte auf diese verwiesen hat. Der typische Anwendungsfall ist, dass eine Partei auf der Grundlage ihrer Einkaufsbedingungen bestellt, während die andere Partei auf die Geltung ihrer allgemeinen Verkaufsbedingungen besteht. Solange dies den Parteien bewusst ist, ist nach allgemeinen Regeln noch kein Vertrag geschlossen. Häufig, sogar meistens, passiert es jedoch, dass irgendwann die Lieferung oder die Bezahlung ausgeführt wird. Da allgemein gilt, dass die Annahme eines Angebotes unter Änderungen oder Erweiterungen die Ablehnung des ursprünglichen Angebots verbunden mit einem neuen Angebot auf Vertragsschluss darstellt, stimmt die Partei, die nach dem letzten Schreiben des Vertragspartners die Vertragsleistung erbringt, konkludent dem letzten Angebot und damit der Einbeziehung der AGB zu.
Bezogen auf das belgische Recht könnte man formulieren, dass der belgische Gesetzgeber auf der einen Seite die „Knock-out“-Regel in das Zivilrecht eingeführt hat, das Beweisrecht jedoch zu einem Ergebnis führen kann, das der „Last-shot-rule“ entspricht.
Die Störung oder der Wegfall der Geschäftsgrundlage – théorie de l’imprévision
Eine weitere maßgebliche Änderung ist die durch Artikel 5.74 des Zivilgesetzbuchs eingeführte Theorie der Unvorhersehbarkeit. Mutatis mutandis entspricht dies dem deutschen Rechtsinstitut der Störung oder des Wegfalls der Geschäftsgrundlage, § 313 BGB.
Der Einwand des Wegfalls der Geschäftsgrundlage ist ein aus dem Prinzip von Treu und Glauben, § 242 BGB, entwickelter Einwand des Schuldners einer Leistung und durchbricht das Prinzip pacta sunt servanda.
Als Geschäftsgrundlage werden die Umstände angesehen, von deren Vorliegen die Parteien bei Vertragsschluss ausgegangen sind, die aber nicht ausdrücklich Vertragsbestandteil geworden sind. Wenn diese Umstände sich tatsächlich schwerwiegend im Sinne eines groben Missverhältnisses verändert haben und die Parteien bei Kenntnis davon den Vertrag nicht, beziehungsweise nicht so geschlossen hätten, wird für den Fall der Unzumutbarkeit des Festhaltens an dem Vertrag einer Partei erlaubt, diesen Vertrag unter Berücksichtigung von Treu und Glauben nachzuverhandeln bzw. den Vertrag aufzuheben.
Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, wie die Risikoverteilung des Vertrages im konkreten Fall ausgestaltet ist. Hat nämlich eine Partei konkret das sich realisierende Risiko übernommen, zum Beispiel einen langfristigen Liefervertrag abgeschlossen, jedoch die Möglichkeit der Preissteigerung nicht vorhergesehen, während die andere Partei gerade wegen des durch die andere Partei übernommenen Beschaffungsrisikos kontrahiert hat, kann sich der Schuldner nicht auf die Störung oder den Wegfall der Geschäftsgrundlage berufen. Die Regeln über die Störung der Geschäftsgrundlage greifen deshalb erst ein, wenn weder der Vertrag noch das Gesetz eine Risikoverteilung vornehmen.
Eine Berufung auf die Störung oder den Wegfall der Geschäftsgrundlage unterhalb der Eingriffsschwelle der Höheren Gewalt war bislang im belgischen Recht nicht möglich. Um sich hierauf berufen zu können, war es notwendig, in dem Vertrag eine sogenannte „hardship“-Klausel vorzusehen, die man vor allem im Common Law kennt.
Für Altverträge bleibt es daher dabei, dass der Vertragspartner leisten muss, wenn ihm keine „hardship“-Klausel zur Hilfe kommt.
Wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen der Störung oder des Wegfalls der Geschäftsgrundlage erfüllt sind und die Parteien keine Einigung erzielen können, können sie das Gericht anrufen. Dieses kann entscheiden, den Vertrag neu zu verhandeln oder ihn rückwirkend zu kündigen, was höchstens bis zum Zeitpunkt der veränderten Umstände zurückreichen darf. Dies ist in der Rechtspraxis ein Unterschied zum deutschen Recht, wonach die Gestaltungswirkung, zum Beispiel der Kündigung des Vertrages, durch einseitige empfangsbedürftige Erklärung herbeigeführt wird, wie dies auch im Falle des Rücktritts vom Kaufvertrag der Fall ist. Rechtsbehelf hiergegen ist dann zum Beispiel eine Leistungs- oder Feststellungsklage, während im belgischen Zivilrecht das Gericht angerufen werden muss, mit dem Antrag, den Vertrag zu annullieren (es sei denn, der Vertrag oder die AGB sehen die rechtsgestaltende Wirkung derartiger Erklärung vor).
Anticipatory Breach
Neu ist auch, dass die Reform des Zivilgesetzbuches die Anwendung der Doktrin des „anticipatory breach“ ermöglicht. Wenn im Rahmen eines Schuldverhältnisses absehbar ist, dass der Schuldner seinen Verpflichtungen zum vereinbarten Zeitpunkt nicht nachkommen wird, kann der Vertrag aufgelöst werden, bevor die Leistung fällig wird und Verzug eintritt. Im deutschen Recht ist dies in § 323 Abs. 4 BGB vorgesehen, im UN-Kaufrecht in Art. 72 CISG.
Rechtsbehelfe in einem solchen Falle ist die Auflösung des Vertrages, die Ersatzvornahme oder die Erhebung der Einrede der Nichterfüllung in Betracht zum Zwecke der Aussetzung der Erfüllung der Verpflichtung zur Gegenleistung.
Bei einer absehbaren, jedoch nur geringfügigen Vertragsverletzung kann der Gläubiger durch eine vorherige Inverzugsetzung eine verhältnismäßige Minderung des Preises verlangen. Sie wird auf der Grundlage der Differenz zwischen dem Wert der erhaltenen Leistung und dem Wert der vereinbarten Leistung berechnet. Diese Möglichkeit bietet dem Gläubiger eine Alternative zu kostspieligen Gerichtsverfahren, weil dies den sowohl nach deutschem wie nach belgischem Zivilprozessrecht für die Frage der Kosten eines Rechtsstreits maßgeblichen Gegenstandswert mindert.
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